Kurzgeschichten

Hindernisse überwinden

Als beste Waffe im Kampf gegen den Hüter ihres Schatzes hat sich erwiesen, dass sie zu jung ist, um überhaupt eine Waffe zu gebrauchen.

Liane Delmonte ist 27 Jahre alt. Ihre Ausstrahlung ist jung, ihre Kleidung ist jung und ihr Ehrgeiz ist jung. Sie möchte keinen Ehrgeiz versprühen, weil sie glaubt, dass sie die Jugend dazu berechtigt, keinen Ehrgeiz haben zu müssen.

Sie mochte schon in ihrer Klasse nicht die Mädchen, die so taten als hätten sie kein Interesse an guten Schulnoten, aber heimlich immer so viel gelernt hatten, dass ihre Noten ausgezeichnet waren und sie damit nach dem Abitur ihre Karriere gestartet haben.

Liane hatte früh erkannt, dass dies nicht ihr Weg sein konnte. Jetzt saß sie in ihrem Zimmer, gerade erst aufgewacht, obwohl die Sonne hoch am Himmel stand und tastete ungläubig den Ärmel ihres Pullovers ab. Sie befand sich in dem angenehmen Schwebezustand zwischen Wach- und Schlafheit. Immer noch etwas befangen von ihrem Traum wo sie wieder zu Hause in Italien durch die engen Gassen schlenderte. Bis sie erschreckt feststellte, dass sie barfuß war und Blutspuren hinterließ. Schreckliche Schmerzen, schreckliche Angst, hatte sie wach werden lassen.

Sie legte den Pullover neben sich auf das Bett und ging die paar Schritte zum Waschbecken, um sich mit beiden Händen das Wasser ins Gesicht zu spülen. Beim Abtrocknen blickte sie in den Spiegel und musste lächeln. Nein, eigentlich lachte sie laut.

Die anderen Mädchen aus der WG hatten ihr einfach nur einen dummen Streich gespielt. So musste es gewesen sein. Liane arbeitete in einer Bar und deswegen hatten die anderen die Ärmel ihres Pullovers zugenäht. Damit sie, Liane am Abend nicht die Flaschen greifen konnte, um den Gästen Cocktails zu mixen.

Es war nur ein harmloser Streich, der ihr zeigen sollte, dass sie zu viel arbeitete. Insbesondere, dass sie bis spät in die Nacht arbeitete und tagsüber nicht am Leben teilnahm.

Liane wurde von allen Lili genannt, das das kindliche an ihr hervor hob. Die anderen sahen ihren Beruf als kindisch an. Vielleicht war es doch kein harmloser Spaß, sondern eine Boshaftigkeit, um ihr zu zeigen, dass sie ihr Leben nicht im Griff hatte.

Alle in der Wohngemeinschaft hatten schon erste Berufserfahrungen, bildeten sich weiter, wollten etwas in ihrem Leben erreichen. „Lilli, du sitzt nur da und träumst“, sagten sie oft zu ihr, wenn sie zu ihr in die Küche traten. Die anderen Mädchen waren müde von der Arbeit, aber gleichzeitig rege und erfüllt von den Möglichkeiten, die sich ihnen boten.

„Warum ausgerechnet Jena“, fragen die Mädchen sie oft. „Wenn du wenigstens eine richtige Cocktail-Mixerin wärest“, niemand fand je das passende Wort für Barkeeper, „in New York oder London wenigstens. Da wo es cool ist in einer Bar zu arbeiten, da wo es berühmte Bars gibt. Aber ausgerechnet Jena.“

Liane wusste nicht, warum es Jena war. Sie hatte nicht im Atlas nachgeschaut in welche europäische Metropole sie gehen könnte.

Sie hatte ihre Tasche gepackt, hatte Italien verlassen und war hier gelandet.

Warum ausgerechnet die Pulloverärmel zunähen,  fragte sie sich. Das machte keinen Sinn. Sie ging wieder zum Bett, hob den Pullover hoch und schaute sich die Ärmel genauer an.

Ich werde die Ärmel wieder auftrennen und damit läuft mein Leben weiter wie bisher, sagte sie sich. Liane die Ehrgeizlose, das bin nun mal ich.

Sie ging schnell in die Küche, suchte in den Schubladen eine Schere und setzte sich an den Tisch, um die Ärmel zu befreien. Das war ihre Art der Tatkraft. Trotzdem kam sie ans Grübeln. Was würde passieren, wenn sie die Ärmel verschlossen lassen würde, den Pullover anzöge und mit eingeschlossenen Händen, nicht fähig etwas zu greifen, hinaus ging. Was würde das ändern? Sie legte Schere und Pullover beiseite.

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